50 Jahre Wiener Meisterkurse – Festrede von Edwin Baumgartner

Vom Wesen der Musik

Gehalten beim Festakt der Wiener Meisterkurse am 31.07.2025:

Sehr geehrte Anwesende,

Wiener Meisterkurse – zwei Wörter, die schnell ausgesprochen sind. Aber was bedeuten sie? Ich darf eine zaghafte und rudimentäre Annäherung versuchen.

Lassen Sie mich mit dem einfacheren Wort beginnen: Meisterkurse.

Das ist unbestreitbar: Meisterinnen und Meister des Instrumentalspiels und des Gesangs unterrichten, nun, sagen wir: angehende Meisterinnen und Meister in den Feinheiten ihrer Profession. Solche Kurse könnten freilich überall stattfinden von Hammerfest, der nördlichsten Stadt der Welt, bis nach Ushuaia, der südlichsten.

Doch es sind weder Hammerfest Meisterkurse noch Ushuaia Meisterkurse, die nun beginnen, so wunderbar sie auch sein könnten – es sind Wiener Meisterkurse.

Das ist völlig in Ordnung, und keineswegs nur aus geografischen Gründen.

In der Musik bedeutet Wien mehr als nur eine Stadt an der Donau, die einmal Kaiserliche Residenz war und ein Tourismusmagnet ist.

In Wien nämlich konzentriert sich alles, was klassische Musik bedeutet – obwohl das Wenigste davon originär, oder wie es heute heißt: autochthon aus Wien stammt.

Denn ohne jeden Zweifel hat Wien seine großen Klassiker nicht selbst hervorgebracht: Joseph Haydn war Niederösterreicher, Wolfgang Amadeus Mozart Salzburger, Ludwig van Beethoven kam aus der kurkölnischen Residenzstadt Bonn, Johannes Brahms aus Hamburg, Anton Bruckner war Oberösterreicher. Der Opernspezialist Marcel Prawy sagte einmal, es habe bis ins 20. Jahrhundert keine bedeutende Oper gegeben, die ausschließlich von Österreichern und schon gar nicht von Wienern geschaffen wurde.

Doch der Schmelztiegel, der alle diese Komponisten verbindet, ist nun einmal Wien. Völlig zurecht spricht man in Zusammenhang mit dem Niederösterreicher Haydn, dem Salzburger Mozart und dem Bonner Beethoven von der „Wiener Klassik“, obwohl viele ihrer musikalischen Bausteine und Ingredienzen im weit entfernten Mannheim erfunden wurden.

Diese „Wiener Klassik“ ist das Zentrum aller Musik.

Das mag übertrieben klingen. Dennoch ist es gut argumentierbar. Denn es scheint tatsächlich so, dass alle vorher geschriebene Musik auf diese Wiener Klassik zustrebt und selbst Bachs höchste Vergeistigung kontrapunktischer Künste eine letzte Krönung in Beethovens Spätwerk erfährt.

Ebenso aber geht von dieser Wiener Klassik alles Weitere aus: Von Mozart führt ein Weg zu Schubert, der weiterführt zu Gustav Mahler; von Haydn führt der Weg zu Beethoven und weiter zu Bruckner. Aus der motivischen Arbeit Beethovens geht Johannes Brahms hervor, der konsequent weiterführt zur Zweiten Wiener Schule eines Arnold Schönberg, Alban Berg und Anton von Webern und darüber hinaus zu Béla Bartók, während sich Gustav Mahler sowohl in den Werken des Russen Dmitri Schostakowitschs als auch in denen des Engländers Benjamin Britten manifestiert. Viele weitere Verbindungslinien ließen sich aufzeigen, würden aber den Rahmen sprengen.    

Wieso es zu dieser Sonderstellung Wiens in der Musikgeschichte gekommen ist, sehr geehrte Anwesende, will ich abkürzen. Denn wollte ich alle Zusammenhänge darlegen, kämen wir wohl erst in den frühen Morgenstunden zum nächsten Programmpunkt. Deshalb möchte ich nur andeuten, dass es wohl mit der wenig glorreichen Militärgeschichte zu tun hat, dass Kaiserhaus und Adel vor allem auf Kunst und Kultur setzten, um sich der Weltgeschichte einzuschreiben.

Klug überlegt war das auf jeden Fall. Denn eine einzige verlorene Schlacht kann Grenzen verschieben. Doch nichts und niemand kann einen Haydn, einen Mozart oder einen Beethoven aus dem Menschheitsgedächtnis tilgen.

Wien ist freilich nicht nur das Gravitationszentrum des Schaffens von Musik, Wien ist auch – oder zumindest: sollte sein – der Ausgangspunkt des Nachdenkens darüber, was Interpretation von Musik bedeutet.

Man kann – nein: man muss die Wiener Meisterkurse sehen als konsequente Fortsetzung des Wegs, den der Dirigent Hans Swarowski, weltberühmter Dirigierlehrer an der damaligen Wiener Hochschule und jetzigen Universität für Musik vermittelt hat.

Wollte man Parallelen zu anderen Disziplinen finden, so würde sich die psychiatrisch fundierte Philosophie Viktor Frankls anbieten: Wenn Frankl sagt, man müsse als Individuum sinnvolle Antworten auf die Fragen geben, die das Leben heranträgt, so fordert Swarowski, dass sich die Interpretin oder der Interpret der Befragung durch das Werk stellt.

Um zu verstehen, wie wertvoll dieser Weg ist, müssen wir, die mit der klassischen Musik als Ausführende oder als Publikum befasst sind, uns einige unangenehme Tatsachen bewusst machen.

Unsere Gegenwart ist geprägt von einem Überangebot an Aufführungen und vor allem Aufnahmen der Konzert-Standards: Mag man sich um Haydn noch relativ wenig kümmern, so liegen die üblichen Verdächtigen aus der Feder von Mozart, Beethoven, Schubert, Brahms und neuerdings, angeheizt durch das Jubiläumsjahr, Bruckner und viele andere der großen Klassiker in unzähligen Einspielungen vor und sind die Schlachtrösser der Live-Konzerte.

Wie sinnvoll ist es, eine weitere Aufführung dieser Werke zu unternehmen oder noch eine Aufnahme vorzulegen?

Andererseits sind es gerade diese Dauerbrenner, die auf dem ohnedies schrumpfenden Klassik-Markt punkten. CD-Labels reagieren damit, dass sie die klassischen Einspielungen vom Markt nehmen, um die Newcomer mehr oder minder konkurrenzlos zu positionieren.

Die Marketingstrategie ändert freilich nichts daran, dass die klassischen Einspielungen auf den diversen Internet-Plattformen trotz aller Urheberrechtsbrüche erreichbar sind und neu erscheinende Interpreten und Interpretinnen in eine Zwickmühle zwingen: Sie brauchen das klassische Repertoire ebenso, wie sie, das ist völlig legitim, Aufmerksamkeit benötigen.

Eine Aufmerksamkeit, bei der sie gegen Unmengen kanonisierter Aufnahmen ankämpfen müssen.

Wie sollen sie, wie können sie diese Aufmerksamkeit erzielen?

Das, sehr geehrte Anwesende, bringt Interpretinnen und Interpreten auf manch eine unselige Idee: Nicht mehr das Werk steht dann im Zentrum ihrer Überlegungen, sondern das Ego. Wie kann man sich durch eine Einspielung oder eine Aufführung von den hunderten anderen Aufführungen und Einspielungen so stark abheben, um das Interesse von Publikum und Fachwelt zu erregen?

Der leichteste Weg ist der des Anders Machens um jeden Preis. Man hält dem Werk einen mit intellektuell wirkenden Argumenten garnierten Zerrspiegel vor: Tempo und Dynamik, Stricharten und die Gewichtungen der Stimmgefüge werden mit voller Absicht aus der vom Komponisten beabsichtigten Balance gebracht.

Die Mode der Zeitlupenorgien in der mehr künstlichen als künstlerischen Nachfolge eines Wilhelm Furtwängler oder Hans Knappertsbusch wird mittlerweile abgelöst von irrwitzigen Verfolgungsjagden, die jedem Autorennen gut anstehen würden. Könnte man die absichtlich mechanischen Wiedergaben der einen mühelos durch ein Metronom ersetzen, ohne an Qualität der Aufführung einzubüßen, lassen die willkürlichen Temporückungen anderer ahnen, dass ihnen die Proportionen der formalen Strukturen wenig bis gar nichts bedeuten.

Bei Solistinnen und Solisten ergibt sich ein ähnliches Bild: Viele drehen die Musik durch den Fleischwolf. Die von ihnen und ihrer Anhängerschaft euphemistisch zu Extreminterpretationen stilisierten Wiedergaben, hier barfüßig absolviert, dort in bemerkenswertem Outfit, sollen Pop-Glamour für die Klassik lukrieren.

Oder besser gesagt: Nicht für die Klassik, sondern für die Klassik-Interpretin oder den Klassik-Interpreten.

Je hässlicher es klingt, je gewagter die Dynamik vom kaum noch wahrnehmbaren Superpianissimo bis zum Trommelfell zerreißenden Fortissimo, je irrwitziger die Tempi genommen werden, desto größer die Aufmerksamkeit. Dem eigenen Bekanntheitsgrad kommt das fraglos zugute. Mozart, Beethoven und Schubert freilich können darauf verzichten.

Doch das Feuilleton und weite Teile des Publikums machen mit. Endlich, so heißt es dann, spielt das eine oder einer einmal anders, treibt es auf die Spitze, heißt es dann. So, heißt es dann, hat man das noch nicht gehört. Wobei die wenigstens zugeben, dass es gute Gründe gibt, weshalb man es so noch nicht gehört hat.

Möglich sind solche Extravaganzen, weil keine andere Form der Kunst einen derart großen Freiraum gewährt. Bilder und Skulpturen stehen genau in der Erscheinungsform vor uns, die die Künstlerin oder der Künstler beabsichtigt hat; ebenso gewähren Text die Einsicht in den Willen ihrer Urheberinnen und Urheber, und zwar auch dann, wenn er für das Theater geschrieben ist und uns die Regie mitunter etwas Anderes zu verstehen geben will.

Mit der Musik ist das anders.

Da beschränkt sich der Komponist mit kryptischen Zeichen und ein paar wenigen Angaben zu Tempo und Ausdruck. Und jetzt, du Musikerin, du Musiker, mach was damit, übersetze abstrakte Zeichen in konkreten Klang.

Nur WIE es klingen soll, wie es im Idealfall klingen kann, das wissen wir nur in wenigen Fällen, dann nämlich, wenn der Komponist als sein eigener Interpret fungiert. Und gerade da kommt es nicht selten vor, dass man sich verwundert fragt, ob es sein könnte, dass der Komponist eben alles, was ihm zu seiner Werkidee eingefallen ist, fein säuberlich aufgeschrieben hat, dass er aber zusätzlich wenig zu melden hat.

Anders gesagt: Wie oft erlebt man es, dass Komponisten als Interpreten ihrer eigenen Werke langweilen oder komplett versagen!  

Eine Partitur also ist, ich wage den Vergleich, ein Rezept. Und so, wie das gleiche Gericht in jedem Restaurant ein wenig anders schmeckt oder in der Haubenküche gar völlig uminterpretiert wird, so geht es auch mit den Partituren: Fügt der eine viel Salz in den Balancen zu, würzt die andere die Akzente mit reichlich Chili, der dritte wieder stimmt die Instrumentationssauce perfekt ab, während das vierte Ensemble das Gegenteil unternimmt und mit Absicht den Oregano des Stimmgefüges vorschmecken lässt.

Soweit – so gut.

Doch die zuvor beschriebenen Extravaganzen gehören eher ins altrömische Kochbuch des Apicius, wenn er beschreibt, wie man ein Gericht so umwürzt, dass es wie ein anderes schmeckt.

In der Kulinarik mag das für Überraschungen sorgen. Das Umwürzen der Musik ist indessen fragwürdiger – auch dann, wenn es gefeierte Stars sind, die Romantisches über den barocken Leisten schlagen und Barockes auf die Dissonanzen trimmen, die sie im Handumdrehen der Moderne austreiben, um sie bekömmlicher zu machen.  

Was Swarowski und die Wiener Meisterkurse vermitteln wollen, ist das genaue Gegenteil solcher Egotrips.

Nicht das Andersmachen zugunsten einer Karriere ist das Erbe Swarowskis, sondern die Befragung des Werks, das Erfassen seiner geistigen Substanz, das Erkennen der Möglichkeit, das klassische Schönheitsideal mit der künstlerischen Wahrhaftigkeit zu vermählen.

Dass genau darin ein – freilich begründetes, philosophisch befragtes – Anderes entstehen mag, sei nicht verschwiegen. 

Doch sich darauf einzulassen, erfordert gerade in unserer Gegenwart, in der der Weg zum Andersmachen allzu leicht genommen wird, Mut: Den Mut nämlich, den leichten Weg aufführungstechnischer Selbstverwirklichung zu verlassen und sich statt dessen auf einen Dialog der eigenen Person mit dem Werk einzulassen. Es bedeutet, die in langen Jahren mit viel Mühe und Disziplin erworbene makellose Beherrschung der technischen Fähigkeiten nicht zur Selbsterhöhung zu nützen, sondern um sich in den Dienst eines Werks, eines Komponisten zu stellen; es bedeutet, sich mit einer Zeit, mit deren geistigen Strömungen und Ideen auseinanderzusetzen; es bedeutet ein weiteres mühsames und vielleicht aufreibendes Studium über die Beherrschung der musikalischen Technik hinaus.

Welchen Lohn diese Mühe zeitigt, stellen die Wiener Meisterkurse in Aussicht: Dieser Lohn nämlich besteht darin, zum Wesen der Musik vorzustoßen.

©Edwin Baumgartner

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